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Projekt 09 – Nora de Baan
Kenotaphe
Denkmal für invasive Neophyten
Der Spruch am meisten sind wir uns selbst fremd ist für gestandene Kulturpessimisten des 20. Jahrhunderts
immer dann im Hinterkopf zu vernehmen, wenn wieder einmal in den Feuilletons der heimischen Presse eine
Debatte über das Fremde geführt wird. In der botanischen Welt der Pflanzen gibt es dazu ein Pendant, das unser
Unbehagen gegenüber der Debatte stützt und dennoch keineswegs dem Darwinismus nachhechelt, sondern
einfach, aber prägend, etwas ergänzt: die Neophyten. Inmitten der durch Agrarwirtschaft und sonstigem Konsum-
Dreck dezimierten lieblichen und gewohnten Flora haben sich fremde und meist sehr durchsetzungsfähige
Pflanzen eingenistet, die das vom BAFU (Bundesamt für Umwelt) verordnete Gleichgewicht ziemlich
durcheinanderbringen. Ohne weiter darüber zu Kalauern - obwohl sich hier wirklich ein weites Feld auftut -, ist die
Verbindung zur Arbeit von Nora de Baan mit dem Titel KENOTAPHE auf der Pfingstweid offensichtlich. So
unwahrscheinlich es ist, dass unsere heimische Flora seit je her so zusammengesetzt ist, wie sie sich gegenwärtig
zeigt und wie sie so schön komponiert daliegt, so unerklärlich ist auch das Verhalten des Menschen, auf dem
Schmerz über Dinge, die er vermisst, zu beharren, obwohl er nicht einmal in der Lage ist, die Gründe dafür zu
beschreiben. Noch bezeichnender sind die politisch und medial motivierten Fehlfunktionen der prophylaktisch
vermissten Dinge, die uns Angst und Pein bereiten, bevor sie real werden; es sind reine Annahmen und
Spekulationen. Vieles in unserer Psychologie ist darauf angelegt, uns mit scheinbaren Sicherheiten zu beruhigen.
Es kann auch deshalb nicht erstaunen, dass angesichts der Masse von durchgeknallten überzeugungstätern der
Wunsch nach Sicherheit in der Gesellschaft, wie im Individuum, einem Suchtverhalten entspricht, das dem
Gebaren von Drogenkonsumenten in keiner Weise nachsteht. KENOTAPHE (leeres Grab, auch Scheingrab) ist
auch ein einfaches Sicherheitsverhalten-Ding. Dinge, die wir rituell an einem Ort vergraben, versinnbildlichen jene
Geister, die an einem bestimmten Ort gebannt und uns nicht mehr hinter Gebüschen auflauern können. Das
gleiche Prinzip verfolgen wir auch mit Institutionen, Denkmale und Gebäuden, denen wir eine überhöhte
Bedeutung geben. Heiner Mühlmann hat 2014 bei Wilhelm Fink derartiges angedacht. Darüber nur soviel in
Kürze: Museen, Kirchen und andere Gebäude von höherem öffentlichem Interesse werden, sobald sie über die
Generationen hinaus stehen bleiben - also eine transgenerationale Vergangenheit haben - zu einem erhöhten
Symbol des sozialen Zusammenhalts. Diese Gebäude werden z. B. Ersatz für eine fehlende Verlässlichkeit oder
Stringenz der Gesellschaft, also zu einem modernen Mysterium der jeweiligen Epoche. Auch deshalb stossen
städtebauliche Ideen und Nutzungsänderungen von öffentlichen Gebäuden auf vehementen Widerstand.
Auch die Kunst kennt die Irritation einer Hypothese für fiktionale und indirekte Bedeutungen, wie z. B. im Alltag der
Fetisch iPhone die Bedeutung seiner Halter überhöht, indem er das Blaue in der Zukunft verspricht.
Neujahrsvorsätze und Kunstkritiken sind dem ähnlich, die Relevanz bleibt dennoch einzig und allein dem Nutzer
vorbehalten, der dem Versprechen auf eine bessere Zukunft mehr glauben will, als das Ding in seiner Hand in der
Gegenwart kann. Invasive Neophyten durchdringen diese menschliche Scheinwelt und behaupten für sich das
Recht auf eine eigene Realität, abseits des Humanen. Es zwingt den Menschen dazu, zu reagieren, sei es durch
rohe Gewalt und Vernichtung, oder durch Verleumdung, die störende Pflanze als die böse dunkle Macht an den
Pranger zu stellen. Auch ihre Geschichte muss zerstört werden, um sie als Schwester des Teufels bezeichnen zu
können. Ein einfacher Vorgang aus der Mottenkiste der politischen Intrige, die gerade wieder aufblüht und immer
noch wirkungsvoll ist, auch in der Kunst. Anderes verspricht die Arbeit von Nora de Baan. Selbst wenn man ihre
Arbeit im Quartier politisch kartografiert und sie in der Kunstgeschichte situiert, sie zu bändigen versucht, so wird
doch stets bewusst, dass die Tragbalken mit ihrer archaisch anmutenden Präsenz geprägt sind durch den
unmittelbaren Entzug ihrer vorherigen baulichen Bestimmung sowie ihres ursprünglichen Nutzens. Sie haben also
Geschichte, und dadurch werden diese bildhauerischen Elemente nicht in die mysteriöse Existenz gedrängt,
sondern bleiben in unserer Wirklichkeit haften. Es ist nur die brachiale, und doch behende gestaltete Setzung auf
dem Einkaufswägeli eines Grosshändlers, welche sichtlich einem Akt der überforderung gleichkommt, rein
statisch und physikalisch. Es manifestiert eine Unfähigkeit der Gesellschaft und ihrer ganzen Entwicklungskultur,
grössere neue Bewegung in einem geordneten Ablauf durchzuführen. Die sperrige Gestalt und der wankenden
Ausdruck ihres Sockels sind echt, wie ihre profane ästhetik und beschwingtes Design - das zwischen modernster
Zugmaschine und archaischer Aufschichtung zu liegen kommt. Wir sehen uns selbst als die eingeschnürten
Protagonisten der aktuellen Epoche, in der wir durch unsere Scheinidentität verunmöglicht sind. Tragikomödien
sind dazu da, in ausweglosen Situationen neue Möglichkeiten aufzuzeigen. Nora de Baan schafft in diesem Falle
eine bildhauerische und performative Qualität, die an das über allem stehende Mysterium der menschlichen
Unfähigkeit erinnert, dessen wir uns im Alltag zwar ständig bedienen, aber nicht wirklich Raum schenken wollen:
der Hoffnung.
NKZ September 2016